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Die Zinssenkung der US-Notenbank (Fed) im vergangenen Monat war aus meiner Sicht nicht notwendig. Ich bin der Auffassung, dass sich die US-Wirtschaft gut schlägt, die Deflationsrisiken aufgebauscht werden und die lockerere Geldpolitik die Verzerrungen an den Finanzmärkten verstärken wird. Hierbei möchte ich jedoch eine tiefere Sorge anführen: Ich befürchte, dass die Geldpolitik ihren Halt verloren hat und es der Fed an Überzeugung und Orientierung mangelt. In diesem Beitrag erörtere ich die Gründe und die Folgen für die Anleger.
Die Überzeugung hat sich beim geldpolitischen Rahmen der Fed in Luft aufgelöst.
Notenbanker befürchten häufig, dass die Inflationserwartungen den Halt verlieren könnten.
Ich befürchte, dass die Geldpolitik an sich den Halt verloren hat.
Für ihren Entscheid zur Zinssenkung nannte die Fed auf ihrer Juli-Sitzung einen Mischmasch an Gründen: (1) Versicherung gegen die Unsicherheit im Welthandel, (2) Steigerung der Inflation und (3) weitere Stützung des Arbeitsmarkts. Bei so vielen verschiedenen Gründen kann die Fed sich etwas aussuchen und die harten Daten ignorieren, die eine durch den starken Arbeitsmarkt und den Konsum getragene robuste Konjunktur zeigen.
Auf Zielkurs
Ich sagte, dass die Fed bloß dem Marktdruck nachgab. Robert Barro aus Harvard vermutete, sie sei vor dem politischen Druck eingeknickt.[1] Beide sind der Beobachtung nach gleichwertig, da sowohl Märkte als auch Politiker nach niedrigeren Zinssätzen schreien.
Man gibt dem Druck eher nach, wenn man von den eigenen Ideen nicht restlos überzeugt ist. Und die Überzeugung, was Geldpolitik zu erreichen versuchen sollte, und wie, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
Inflation und Anleihenrenditen sind weiterhin niedrig, obwohl sich die US-Konjunktur erholt hat. Dies bringt viele Forscher und Marktteilnehmer zu der Auffassung, dass der reale Gleichgewichtszinssatz („R-Star“) nun niedriger ist als früher[2] und dass der nominale Zinssatz der Fed bei niedriger Inflation ebenfalls niedriger, möglicherweise zu nahe an der Nullzinsgrenze, liegen wird und die Fed nicht mehr imstande ist, die Zinssätze ausreichend zu senken, um einer Rezession zu begegnen.
Angst vor der Nullzinsgrenze
Ein begleitendes, von den Ökonomen Olivier Blanchard und Lawrence Summers vorgebrachtes Argument lautet, dass die Geldpolitik mehr leisten kann, als das Auf und Ab des Zyklus abzufedern: Sie kann das langfristige Wachstum gestalten.[3] Die Konjunktur für längere Zeit auf ein höheres Tempo zu bringen kurbelt die Investitionen an und sorgt dafür, dass mehr Menschen in Erwerbstätigkeit kommen und Fertigkeiten erlangen. Dieser Anstieg bei Investitionen und Humankapital wird das potenzielle Wachstum erhöhen. Eine längere Rezession zuzulassen hat die gegenteilige Wirkung. Im Ökonomen-Sprech nennt man dies einen „Hysterese-Effekt“.
Dies befeuerte eine heftige Debatte darüber, ob und wie der geldpolitische Rahmen der Fed geändert werden soll. Vorschläge gibt es zuhauf: ein höheres Inflationsziel, ein Preisniveauziel oder ein nominales BIP-Ziel. Der zugrunde liegende Konsens ist scheinbar, dass (i) Deflation und säkulare Stagnation die größten Risiken sind und dass (ii) die Fed eine höhere Inflation, möglicherweise um 4 % bis 5 %, anstreben sollte.
Aus meiner Sicht ist dies eine wertvolle Debatte. Da sich die Wirtschaft weiterentwickelt, müssen Ökonomen und Währungshüter versuchen, ihre Dynamik zu verstehen.
Der Fetisch der Inflation
Dieser neue Fetisch der Inflation verwirrt mich allerdings. Treten wir einen Schritt zurück: Was möchten wir als Gesellschaft hier erreichen? Und was sollten die Währungshüter daher anstreben?
Vermutlich besteht das Ziel in Vollbeschäftigung und einer rascheren Steigerung des Lebensstandards für möglichst viele Menschen. Was die Inflation anbelangt, möchten wir einfach nicht, dass sie uns im Wege steht. Wir möchten sie niedrig und stabil. Die Fed und andere wichtige Zentralbanken hatten sich nach Abwägung folgender Aspekte auf ein 2%-Ziel angenähert:
- Die Inflation sollte so niedrig sein, dass sie stabil bleibt (eine höhere Inflation ist in der Regel volatiler) und sich die Menschen keine Gedanken darüber machen müssen, damit sie Konsum und Investitionsentscheidungen nicht verzerrt.
- Sie sollte nicht zu nahe bei null liegen, weil man in einem Umfeld, in dem manche Löhne und Preise nominal nicht sinken, positive Inflation für die Anpassung der relativen Preise benötigt.
In den vergangenen rund 20 Jahren hatten wir genau dies: Verbraucher und Unternehmen konnten die Inflation weitgehend außer Acht lassen, und wir haben keine Belege dafür, dass die niedrige Inflation zu einer Fehlallokation von Ressourcen führte, indem die Anpassung der relativen Preise verhindert wurde.
Die Angst vor einer Deflation ist aus meiner Sicht übertrieben. Selbst während der weltweiten Rezession 2009 oder der europäischen Schuldenkrise verfielen weder die USA noch Europa in eine lang andauernde Deflation. Die niedrige Inflation hinderte weder die US-Wirtschaft daran, zur Vollbeschäftigung zurückzukehren, noch die Eurozone, für einen Zeitraum von vier Jahren über Potenzial zu wachsen.
In Japan – dem abschreckenden Beispiel par excellence für die Gefahren von Deflation – lag das reale Pro-Kopf-Wachstum zwischen 1991 und 2018 im Durchschnitt bei 0,9 % pro Jahr. Dies ist deutlich niedriger als in den USA und in Großbritannien (1,5 %), jedoch nur geringfügig weniger als in Kanada (1,2 %) und Frankreich (1,1 %).[4] Deflation scheint nicht die größte Bedrohung für einen steigenden Lebensstandard zu sein.
Japan: Deflation ist nicht gleich Stagnation
Die Kosten und Risiken der Umstellung auf ein höheres Inflationsziel werden dagegen nach meiner Ansicht zu schnell abgetan. Bei einer Inflation von 2 % dauert es 10 Jahre, bis die Preise um 20 % steigen. Bei einem Ziel von 4 % bis 5 % dauert dies nur 4 bis 5 Jahre. Binnen 10 Jahren steigen sie um 50 % bis 60 %, und binnen 14 bis 15 Jahren verdoppeln sie sich. Dann kann die Inflation nicht mehr ignoriert werden, besonders weil sie dann viel volatiler sein wird als jetzt. Tatsächlich wies der ehemalige Fed-Vorsitzende Ben Bernanke darauf hin, dass 4 % nicht mit dem Fed-Mandat der Preisstabilität im Einklang stehen könnte.[5]
Inflation: Sei vorsichtig mit deinen Wünschen
Zudem könnte die Steigerung der Inflation weder machbar noch wünschenswert sein, soweit die Preisdynamik durch den technologischen Fortschritt oder die Globalisierung niedrig gehalten wird.[6]
Eine Versicherung gibt es nicht gratis
Doch wie steht es um das Risiko von Zinssätzen, die zu nahe bei null sind?
Wir kennen nun beispielsweise die quantitative Lockerung (QE), die wie angekündigt wirkt. QE treibt private Anleger in riskantere Anlagen, verringert die Finanzierungskosten für zahlreiche Unternehmen und Investitionsvorhaben und steigert das Vermögen der Verbraucher durch höhere Asset-Preise.
Ja, es ist besser, die Zinsen zu senken. Doch warum beeilt sich die Fed, die Zinssätze bei nach wie vor robuster Konjunktur zu senken, wenn Zinssätze nahe bei null so schlecht sind?
Jene, die auf niedrigere Zinssätze und höhere Inflation dringen, lassen in aller Regel auch die möglichen Folgen der Geldpolitik für die Finanzstabilität und die Asset-Preise völlig außer Acht. Das ist seltsam. Einerseits wird argumentiert, dass das Risiko von Finanzkrisen größer ist als früher und dass dies ein weiterer Grund ist, die Zinssätze eher früher als später zu senken. Andererseits verschließt man sich der Erkenntnis, dass eine lockere Geldpolitik zu Vermögensblasen beitragen könnte.
Wir hatten im Vorfeld der Aktienmarktblase Ende der 1990er Jahre und der Immobilien- und Kreditblase der 2000er Jahre eine lockere Geldpolitik. Aber das ist wohl nur ein Zufall. Ich weiß, dass es sich nur schwer beurteilen lässt, ob die Asset-Preise den Fundamentaldaten vorauseilen. Aber wenn die Asset-Preise hauptsächlich auf erwartete Zinsschritte der Fed reagieren, sollten wir dann nicht mal eine Pause einlegen und nachdenken?
Aktuelle Untersuchungen von Goldman Sachs bestätigen, dass der „Kauf einer Versicherung“ mit präventiven Zinssenkungen am Finanzmarkt weitere Verzerrungen auslöst und zudem Munition vergeudet, die die Fed später wirklich brauchen könnte. Und übrigens zeigen Untersuchungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), dass lange Kredit-Booms eine Fehlallokation von Ressourcen verursachen, die die Produktivität und das langfristige Wachstum verringern. Ganz genau so, wie eine tiefe Rezession das langfristige Wachstum durch die oben beschriebenen Hysterese-Effekte aushöhlen kann.[7]
Die andere Hysterese: Finanzbooms höhlen Produktivitätswachstum aus
Für Anleger bleiben die Fundamentaldaten der langfristige Fixpunkt
Sie kennen meine Meinung: Ich bin der Auffassung, dass sich die US-Wirtschaft gut schlägt, die Deflationsrisiken aufgebauscht werden und die lockerere Geldpolitik die Verzerrungen an den Finanzmärkten verstärken wird.
Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass die von mir oben zusammengefasste Debatte vielleicht erklärt, warum die Geldpolitik ihren Halt verloren hat und warum es der Fed an Überzeugung und Orientierung mangelt. Die Notenbanker sind durch den Abgang der Inflation verwirrt. Sie befürchten eine noch nie dagewesene Deflation. Sie möchten glauben, dass sie das langfristige Wachstum steigern können, doch sie sind sich nicht ganz sicher. Und sie möchten nicht glauben, dass die Geldpolitik Finanzblasen verursachen könnte. Doch ganz tief in sich drin werden sie sich diese Frage auf jeden Fall stellen.
Falls die Geldpolitik den Halt verloren hat, wird die Aufgabe für die Anleger viel schwieriger. Die fortdauernde Unsicherheit macht es sogar noch schwerer. Nachdem die Fed geäußert hatte, dass die Unsicherheit um den Handel ein Faktor bei ihrem Entscheid für niedrigere Zinssätze war, kündigte US-Präsident Donald Trump (der seinen Wunsch nach niedrigeren Zinssätzen offen aussprach) sofort eine neue Runde von Zöllen auf chinesische Importe an. Zuerst sackten die Aktienmärkte ab und erholten sich dann in der Erwartung, dass weitere Unsicherheit um den Handel zu weiterer geldpolitischer Lockerung führen wird.
Derzeit erscheint es am wichtigsten, die Stimmungsumschwünge der Fed vorherzusehen. Aber sobald er sich die Fed gefügig gemacht hat, dürfte der Markt zur Beurteilung der Fundamentaldaten zurückkehren. Das heutige Verhalten der Fed ist größtenteils durch die wirtschaftlichen Entwicklungen in der Zeit nach der Finanzkrise bedingt. Die aktuellen und künftigen wirtschaftlichen Fundamentaldaten werden letztlich auf das Verhalten der Fed rückwirken und dürften bei der Entwicklung der Asset-Preise sowohl mittelbar als auch unmittelbar die größere Rolle spielen.
Für uns besteht die Herausforderung darin, einen nüchternen Blick auf die Fundamentaldaten zu behalten, auch wenn wir Märkte einschätzen, die mit der Fed Katz und Maus spielen.
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[1]. Quelle: Robert J. Barro, „Is Politics Getting to the Fed? “, Project Syndicate op-ed, 23. Juli 2019.
[2]. Dies wird von Ökonomen als natürlicher oder realer Zinssatz bezeichnet, der dann herrscht, wenn die Wirtschaft mit vollem Tempo läuft. Häufig wird in der Debatte auch der Ausdruck „R-Star” verwendet, weil er in den relevanten mathematischen Formeln als „r*“ angegeben wird. Für eine Diskussion zu „r*“ siehe beispielsweise John Williams, Präsident der Federal Reserve Bank of San Francisco: „The Future Fortunes of R-star: Are They Really Rising?“ Rede beim Economic Club of Minnesota, 15. Mai 2018.
[3]. Quelle: Olivier Blanchard und Lawrence Summers, „Rethinking Stabilization Policy: Back to the Future“, Peterson Institute for International Economics, 8. Oktober 2017.
[4]. Quelle: Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook Database, April 2019. Berechnungen basieren auf dem BIP pro Kopf zu konstanten Preisen, Kaufkraftparität bei internationalen Dollar 2011. Das Jahr 1991 gilt normalerweise als Beginn von Japans erstem „verlorenen Jahrzehnt“.
[5]. Quelle: Ben Bernanke, „Monetary Policy in a New Era“, Peterson Institute for International Economics, 2. Oktober 2017.
[6]. Zum Beispiel James Stock und Mark Watson, „Slack and Cyclically Sensitive Inflation“, National Bureau of Economic Research, Working Paper Nr. 25987, Juni 2019. Sie stellten fest, dass rund die Hälfte der Preise, die im Deflator für die persönlichen Konsumausgaben, dem bevorzugten Inflationsbarometer der Fed, erfasst werden, nicht auf zyklische Veränderungen der Wirtschaftsaktivität reagieren.
[7]. Quelle: Claudio Borio, Enisse Kharroubi, Christian Upper und Fabrizio Zampolli, „Labour reallocation and productivity dynamics: financial causes, real consequences “, BIZ-Arbeitspapiere Nr. 534, 5. Januar 2016.